Kulturpraxis und -geschichte der Weide
Szenen friedlichen Daseins von Hirten und Weidetieren – zähe Arbeit bei widrigem Wetter in meist unbequemen Landschaften: Zwischen diesen Polen bewegt sich die Kulturgeschichte der Weide. Als Menschen begannen, die Alpen mit ihren Haustieren zu besiedeln, setzte auch die Veränderung der nacheiszeitlichen Land¬schaft ein. Die Ausstellung zeigt Etappen dieser Entwicklung bis hin zur heutigen Debatte um Weidetiere und Wölfe.
Skulpturen, Modelle und Spiele, Interviews und Filme geben Einblicke in die Kulturpraxis der Hut, der Weideführung unter Hirten, die nicht nur dem Schutz vor Wölfen dient: Weidetiere, Hirten und Hirtinnen haben das Potential, Positives innerhalb der Krisenthemen Klima, Artenschutz und Umwelt, Ernährung, Tierhaltung und selbstbestimmter Arbeit zu bewirken.
Naturmuseum: Das Naturmuseum Südtirol eröffnete am 25. Oktober eine Ausstellung, die Teil des Forschungsprojekts LIFEstockProtect ist. Innerhalb dieses von der EU geförderten Projekts haben Sie viele Initiativen zu Kommunikation und Öffentlichkeit betreut.
Platzgummer: Wir begannen mit LIFEstockProtect im September 2020, an der Ausstellung zur Kulturgeschichte der Weidetiere arbeitete ich seit 2023. Ich habe Erfahrungen im Umgang mit den Themen Schaf und Wolf, um es sehr plakativ zusammenzufassen, aufgenommen, denn unsere unterschiedlichen Zielgruppen reagieren auf das Themenfeld Weidehaltung jeweils anders.
Naturmuseum: Warum haben Sie diesen Titel gewählt, klingt er nicht zu ruhig?
Platzgummer: Journalistisch gesehen hätten wir dramatischer sein sollen, mehr blood and crime hätte sicher in diese Ausstellung gepasst! Aber das Konzept meidet das Hochdramatische, wir zeigen weder blutige Schafe noch zähnefletschende Wölfe. Die Ausstellung ist kein Kriegsschiff. Sie ist wie ein großes Floß angelegt, das vom Ende der letzten Eiszeit bis ins Heute dahingleitet. Wir machen auf Prozesse aufmerksam: Innerhalb der Natur wirken viele kleine und große Prozesse, und wir Menschen sind ein Teil darin. Wir tun uns sehr schwer damit, denn wir sehen uns als Individuen, als Gestalter. Wir Menschen wollen möglichst viel unter Kontrolle haben.
Naturmuseum: Wie machen Sie auf diese Prozesse innerhalb der Ausstellung aufmerksam?
Platzgummer: Im ersten Teil der Ausstellung sehen die Besucherinnen und Besucher Pflanzen, die wir im Sarntal gesammelt haben, Gräser und Kräuter aus einer Trockenwiese und vom mageren Wegrand unterhalb des Penser Jochs. Seit über hundert Jahren wissen wir, dass die Pflanzen die Grundlage darstellen für alle Tiere. Welche und wie viele Tiere in einem Gebiet leben, das bestimmen die Pflanzen. Wölfe sind Spitzenprädatoren, weil sie an der Spitze der Nahrungspyramide stehen, nicht weil sie alles kontrollieren. Wir haben – wenn wir an Pflanzen denken-eher Bezug zu einem Baum als zu einem Büschel Gras; der Baum beeindruckt durch seine Größe und durch seine individuelle Qualität, das erinnert uns an unsere vertrauten Maßstäbe. Neben der Pflanzenserie sind Schädel angeordnet, der winzige Schädel einer Feldmaus Im Zentrum, der etwas größere eines Hasen, der mittelgroße von einem Fuchs, der eines Wolfs und der von Reh und Hirschkuh. Es sind Beispiele aus den alpinen Nahrungsnetzen, Pflanzenfresser, Alles- und Fleischfresser. Pflanzen und Tiere, Beute und Beutegreifer haben sich aufeinander abgestimmt. Die Gräser lagern Siliziumkristalle ein, im Lauf der Jahre nutzt das Beißen und Mahlen die Zähne ab. Alte Tiere verhungern, wenn sie nicht vorher gefressen werden. Gräser regenerieren sich, wenn sie abgeweidet werden. Herden von Pflanzenfressern haben die großen Graslandschaften geschaffen. So lösen wir das enge Schema Beute und Beutegreifer auf, es sind vielschichtige Beziehungen.
Naturmuseum: Alle können über ihr Handy ständig zu Informationen im Netz zugreifen. Muss eine Ausstellung noch Informationen geben?
Platzgummer: Weniger als vor 25 Jahren, als ich mit der Museumsarbeit begonnen habe. Ich sehe die Aufgabe der Museen im Auswählen, Gewichten, Gliedern. Wir suchen nach Beispielen und Objekten, die unmittelbar einen Kontext kommunizieren. Was wissen die Besucher, was interessiert die Besucherinnen? Eine Ausstellung ist ein generelles Medium, daher bleibt sie ein Experimentierfeld. Informationen sind nicht der wichtigste Bestandteil, es kommt auch darauf an, wer sie gibt. In jedem thematischen Bereich der Ausstellung stellen ausgewiesene Fachleute in Audio- oder Videostationen (in Zusammenarbeit mit dem Amt für Film und Medien der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol und Medientechnik Klaus Ennemoser) das Kernthema vor, der Zoologe Luca Pedrotti vom Nationalpark Stilfserjoch erklärt die Zusammenhänge zwischen Klima, Lebensraum und wildlebender Fauna, der Botaniker am Naturmuseum Thomas Wilhalm die Lebensräume, die durch die domestizierten Weidetiere geschaffen wurden. Umberto Tecchiati von der Universität Mailand verfolgt den weiten Bogen zur Archäologie der Haustiere, der Dekan der theologischen Hochschule in Brixen und Ethiker Martin Lintner beschreibt die Bilder und Skulpturen der Hofburg Brixen aus Sicht der christlichen Symbolik, der Bischof mit dem Bischofsstab, das Apokalyptische Lamm, Jesus als guter Hirte, der das verlorene Lamm findet oder die Wölfe von seinen Schafen abwehrt. Prof. Lintner hinterfragt aber auch das Klischee des bösen Wolfs.
Die Ebene der Information ist nur eine. Die schlichte, aber genau durchdachte Architektur der Ausstellung (Architekt Thomas Hickmann) mit Raumteilern aus geflochtenen Weiden (Irmgard Klotz), Vitrinen, Podesten, Hockern aus Lärchenholz (Vinschger Lärche, gearbeitet von der Tischlerei Jürgen Gemassmer) führen durch ihre Haptik und ihren Geruch hinein in die Kreisläufe der alpinen Natur und sind bis in die letzte Faser wiederverwertbar oder abbaubar. Wir haben entschieden, wenige Texte einzusetzen, sie kurz und anschaulich zu halten, was mehr Sorgfalt erfordert als längere (in Zusammenarbeit mit dem Ausstellungbüro MACHEN, Wien). Die italienischen Übersetzungen nahm das Amt für Sprachangelegenheiten der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol vor, die englischen Gareth Norbury. Auch ein Ergebnis der Erhebungen innerhalb von LIFEstockProtect ist der Weideplan für die Schlanderser Alm im Schlandraun-Tal. Wir stellen den idealen Nutzungsplan der Almweiden in einem Landschaftsmodell vor (Kurt Kußtatscher).
Zwei Hirten und eine Hirtin berichten über ihre Arbeit an der Herde und ihre Arbeitshunde vor. Sandra Hofer und Daniel Paratscha setzen auf der Alm und auf den Winterweiden im Tal Herdenschutzhunde ein. Erich Höchenberger überlegt, warum die Schafhaltung in Südtirol keine wirtschaftliche Bedeutung mehr hat und was das für die Schafhalter bedeutet. Im Video „Weidezaun“ zeigt er, wozu er Elektrozäune einsetzt und dass es falsch ist zu behaupten, es müssten ganze Almen eingezäunt werden. Wichtig ist, die Zäune sorgfältig aufzustellen und zu warten, aber abzubauen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.
Naturmuseum: Innerhalb des Projekts LIFEstockProtect wurden auch Zaunbau-Kurse angeboten. Die Ausstellung, sagten Sie, ist für allgemeine Interessierte gedacht, vermutlich kommen kaum Viehhalter. Warum haben sie das Thema Herdenschutz doch aufgenommen?
Platzgummer: Weil Herdenschutz ein mediales Thema ist. Herdenschutzmaßnahmen gehören zur Haltung von Weidetieren dazu, das war immer schon so, die Praxis hat sich aber verloren, seit das Halten von Schafen oder Ziegen, z.T. auch von größeren Tieren, nicht mehr innerhalb der Landwirtschaft stattfindet, weil sich das wirtschaftliche und soziale Gefüge seit Beginn des 20. Jahrhunderts sehr stark verändert hat.
Durch die mediale und politische Ladung des Themas Wolf (und Bär, aber die beiden sprechen doch unterschiedliche Ebenen an) wurde das Konzept Herdenschutz völlig vereinnahmt. Wer sich um Herdenschutz kümmert, wird als Verräter an seiner sozialen und weltanschaulichen Gruppe stigmatisiert. Auch hier wieder die Metapher des Floßes, das dahingleitet und den Strömungen standhält, es geht um die Langzeitperspektive, nicht um die tagespolitischen Hick-Hacks, in denen Herdenschutz und Tierwohl seit einigen Jahren leider Bedeutungsträger für Gruppierungen sind und spalten, statt sich an der guten Praxis zu orientieren. Wie hoch die Spannung in einem Herdenschutzzaun sein soll, betrifft nicht die allgemeine Öffentlichkeit, sondern die Tierhalter und die Beamten, die die Herdenschutzmaßnahmen kontrollieren (sollten).
Naturmuseum: Geht die Ausstellung auf diese polarisierten Sichtweisen ein, Wolf ja/nein, Herdenschutz geht, geht nicht?
Platzgummer: Das Naturmuseum versteht sich seit jeher als ein Ort, der Informationen genau recherchiert und ordnet, Positionen abgleicht und sein Publikum, gleich welcher Orientierung, ernst nimmt. Wir regen an, wir regen uns nicht auf. Im Bereich 7, Zukunft der Weide, nehmen wir die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte, die innerhalb der Ausstellung wie Tropfen verteilt sind, auf und laden ein, am Mikrofon eine Meinung oder einen Wunsch zu äußern. Am Ende der Ausstellung möchten wir die gespeicherten Aussagen unserer Besucherinnen und Besucher zu einem Audio-Format montieren.
Naturmuseum: Wir wissen, dass im Schnitt pro Person und Jahr ein Kilogramm Fleisch von Lamm oder Schaf gegessen werden, von insgesamt über 50 Kilogramm Fleisch pro Person ist das sehr wenig. Schafhaltung und der nötige Aufwand Schafe zu halten, hängt ja auch vom lokalen Markt für Schaffleisch und den Preisen ab. Warum fragen Sie die Besucherinnen und Besucher nach ihren Proteinquellen, wenn die Statistik bekannt ist?
Platzgummer: Wenn ich die Symbole für meine wöchentlichen Proteinquellen einwerfe, sortiere ich in dem Augenblick meine Essgewohnheiten, manches wird mir vielleicht bewusster. Eine Ausstellung hat auch diese Funktion.
Naturmuseum: Die Ausstellung will alle willkommen heißen, sagen Sie. Warum haben Sie im Bereich 1, gleich zu Beginn der Ausstellung, einen Wolf positioniert? Polarisiert das nicht? Warum ist der Wolf so prominent, der Hirsch, der Fuchs, das Murmeltier als Vertreter der wildlebenden Fauna, Schafe und Ziegen, Rind und Pferd der domestizierten fallen weniger auf?
Platzgummer: Wir haben uns entschieden, keine „echten“ Tiere auszustellen, sondern künstlerische Darstellungen. Der Wolf ist eine Nachbildung eines männlichen Wolfs in Lebensgröße, die Künstlerin Daniela Cagol hat ihn für die Galerie Kompatscher Brixen aus Kunstpelz und Acrylharzen geschaffen. Alle anderen Tiere schuf der Schnalser Bildhauer Friedrich Gurschler, es sind Leihgaben seiner Familie. Von Friedrich Gurschler ist auch die Weihnachtskrippe, die im Bereich 4, den Symbolen, gezeigt wird. Sie spricht die Rolle der Hirten und Schafe im christlichen Kontext an, mit den Figuren dieser Krippe habe ich als kleines Kind gespielt, zum Schrecken von Friedrich Gurschler! Gurschler hat Tiere sehr fein beobachtet, er kannte sie alle aus eigener Anschauung und hütete selbst Jahre in Schnals. Er dramatisiert die Tiere nicht, er verharmlost sie nicht; er arbeitet das Essentielle des Tiers in seiner zeitlosen Energie heraus. Es war uns wichtig, die Qualitäten von Würde und Animalität zu vereinen. Es ist auch ein Kontrast zum Thema Massentierhaltung, das wir am Ende ansprechen, innerhalb der industriell betriebenen Haltung von Nutztieren, gleich ob es um die Erzeugung von Milch, Fleisch, Eiern geht, verlieren die Tiere ihre Kontur völlig, sie werden zu Gewicht, zu Menge, zu Preis. Ich habe den Eindruck, die Figur des Wolfs wird als Pfefferstreuer benutzt, um von großen, tiefgreifenden Problemen abzulenken. Und um die Gruppenloyalität zu fördern, wo viele gegensätzliche Interessen Sprengkraft entwickeln. Natürlich kann auch die Gruppenloyalität über das Feindbild Wolf/Herdenschutz sehr effizient überprüft werden. Dieses soziale Spannungsfeld thematisieren wir in der Ausstellung nicht, im Ausstellungskatalog greifen wir es auf.
Die Ausstellung stellt die Verbindung Weidetierhaltung versus industrielle Haltung her, weil es letztlich darum geht, ob Weidetierhaltung in Zukunft bestehen kann. Und ohne Wolf wären wir nie zum Schaf gestoßen, zu den Weiden, zu den Hirtinnen und Hirten…Wölfe sind wie Stolpersteine; man kann auch hinfallen. Aber wir regen dazu an, wieder aufzustehen und einen guten Weg zu finden für die unterschiedlichen Anliegen. Blockade, Stillstand, Verweigern von Dialog, Ablehnen von natürlichen Prozessen, das kennen wir aus der menschlichen Geschichte zuhauf. Innerhalb der Naturgeschichte sind es Momente, die sich auflösen. Dem Wolf gegenüber haben wir den Hirsch von Friedrich Gurschler gestellt, beide Tierarten haben sich in einer Ko-Evolution entwickelt. Den Hirsch hat der Beleuchter Giorgio Seppi vor einer orangen Sonne inszeniert, für mich ein starkes Zeichen des Rhythmus und der Beständigkeit in der Natur.
Innerhalb der Ausstellung zeigt die Fakultät für Design und Künste Ergebnisse zum Projekt „Feral Wool“ innerhalb von iNEST, kuratiert von Merve Bektaş, Supervision Prof. Seҫil Uğur Yavuz, Freie Universität Bozen, Fakultät für Design und Künste.